Wie behindert bist du eigentlich?!

Wenn der eine Elternteil zum Experten für Hemiparese wird und der andere nicht

Wenn man Eltern wird, verändert sich häufig die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie. Ein Elternteil bleibt meist mehrere Monate zu Hause, kümmert sich ums Kind, der andere geht spätestens zwei Monate nach der Geburt wieder arbeiten.
Nicht selten fällt dann in den ersten 6 bis 10 Lebensmonaten des Kindes auf: „Irgendetwas stimmt nicht. Unser Kind bewegt eine Seite weniger als die andere.“

Es folgen viele Arzttermine, vielleicht auch schon erste Physio- oder Frühförderungseinheiten. Selbstverständlich tagsüber, oftmals dann, wenn der arbeitende Elternteil noch im Büro feststeckt.

Manchmal entsteht dadurch mit der Zeit eine besondere Dynamik.

Der eine Elternteil wird zum „Experten“ für`s Kind, weil er sämtliche ÄrztInnen- und TherapeutInnen-Empfehlungen hautnah mitbekommt, vielleicht auch viel googlet, sich austauscht und natürlich das Kind über den Tag hinweg begleitet.

Und der andere Elternteil bleibt gefühlt ein Stück weit auf der Strecke. Er erlebt sein Kind aufgrund der Arbeit nicht so intensiv, kann ggf. bei vielen ÄrztInnen- und TherapeutInnen-Gesprächen nicht anwesend sein und ist daher weniger involviert.

Diese Dynamik kann Vorteile haben! 

Z.B. wenn der eine Elternteil aufgrund der vielen neuen Infos, Ängsten und Sorgen manchmal die Nerven verliert oder verzweifelt und der andere Elternteil, der vielleicht nicht so involviert ist, optimistisch bleibt und eher die Fortschritte durch die Therapie sieht. So kann dieser Elternteil seine/n PartnerIn auffangen, Zuversicht und Hoffnung schenken. Oder auch umgekehrt.

Der Elternteil, der nicht so involviert ist, fühlt sich in dieser neuen Welt des Handicaps vielleicht ein wenig verloren. Der andere hat nach seiner ganzen Recherche einen guten Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten (z.B. Therapien, Hilfsmittel, Entwicklungsgeschichten von anderen Kindern mit Hemiparese) und kann den/die PartnerIn beruhigen und ihm/ihr die verschiedenen Ansätze zeigen.

Auch das Kind profitiert ggf. von beiden Perspektiven. Beispielsweise dann, wenn der stark involvierte Elternteil das Kind und seine Entwicklung genau beobachtet, die Förderung im Blick behält. Und der andere, dadurch, dass er nicht bei jeglicher Therapie und Förderung dabei sein kann, ungezwungener und freier im Umgang mit seinem Kind ist. Einfach, weil er das Handicap seines Kindes weniger im Fokus hat. Oder es ist auch hier andersherum. Der „Experte“ ist entspannt, weil er die ganzen Förderungsmöglichkeiten kennt und das Handicap auch mal bei Seite schieben kann. Und der andere Elternteil achtet stärker auf`s Kind und seine Entwicklung.

Insofern: Gerade, wenn sich diese Dynamik für beide PartnerInnen gut bzw. stimmig anfühlt, kann sie absolut richtig und hilfreich sein.

Diese Dynamik kann aber auch Nachteile haben!

Z.B. dann, wenn sich der nicht so involvierte Elternteil aufgrund seiner Unsicherheit zurückzieht und der andere Elternteil alles (die Förderung, ÄrztInnen- und Therapie-Gespräche) übernimmt und sich dadurch mit der Zeit überfordert fühlt.

Oder auch, wenn der „Experten-Elternteil“ einfach alles weiß und den/die PartnerIn möglicherweise häufiger korrigiert oder Dinge anders haben will, wenn er/sie Zeit mit dem Kind verbringt. Etwa beim gemeinsamen Spielen, Üben oder Anziehen. Das kann mit der Zeit dazu führen, dass sich der eine Elternteil unfähig fühlt und der andere nicht oder wenig verstanden.

Nicht selten sind dadurch Rückzug, kleinere und größere Konflikte vorprogrammiert. Ebenfalls möglich: Beide PartnerInnen entfernen sich voneinander, jede/r macht sein/ihr Ding.

Genau deshalb ist es so wichtig:

Dynamiken wie diese möglichst früh zu erkennen und im Gespräch zu bleiben. Klar, das müssen beide wollen, ohne das geht es nicht.
Und es ist auch absolut nicht einfach! Es kostet verdammt viel Kraft, eigene Unzulänglichkeiten und Fehler zu entdecken und sie auch offen zu kommunizieren. Oder sich Gefühle wie Hilflosigkeit einzugestehen, sie zuzulassen und damit gemeinsam zu arbeiten.

Deshalb ist es auch völlig okay, sich an dieser Stelle Hilfe zu holen,
z.B. durch eine Einzel- oder Paartherapie. Oder wir gehen zu dritt mal ins Gespräch, schauen uns Eure Situation näher an und entwickeln gemeinsam Möglichkeiten und Ansätze.

3 Dinge, die helfen können…

… gerade dann, wenn diese Dynamik noch nicht so gefestigt ist und beide offen für Veränderung sind:

1. Klar, ein Blick in den Terminkalender 

Nicht immer, aber häufig entsteht diese Dynamik aufgrund der Aufgabenverteilung. Elternteil 1 kümmert sich vorerst am meisten ums Kind, Elternteil 2 konzentriert sich auf die Arbeit und dass Geld reinkommt.

Vielleicht ist es mit der Zeit möglich, hier etwas zu drehen. Vielleicht arbeiten beide eine Zeit lang in Teilzeit, so dass die Zeit mit Eurem Kind anders verteilt werden kann.

Oder möglicherweise schafft Ihr einen Tag, an dem der/die arbeitende PartnerIn früher nach Hause kommt, um z.B. mit dem Kind zu einer Therapie zu gehen oder mit ihm etwas zu üben, es zum Schwimmen zu begleiten oder mit ihm zu spielen.

Oder Ihr nehmt einen Wochenendtag, an dem der sonst nicht so involvierte Elternteil einen halben oder ganzen Tag mit dem Kind Zeit verbringt – ein expliziter Mama- bzw. Papa-Kind-Tag sozusagen.

Klar, man kann nicht den kompletten Kalender umstellen, aber es lohnt sich zu prüfen, wo man Einfluss nehmen kann!

2. Erfahrungen sammeln

Eine mögliche Konsequenz aus der Dynamik, die ich oben geschildert habe, ist, dass sich dadurch möglicherweise ein Elternteil weniger zutraut als der andere. Gerade dann, wenn er nicht so viel vom Alltag und der Förderung des Kindes mitbekommt und das Gefühl entwickelt, nicht hinterherzukommen.

Auch hier lohnt es sich, näher hinzuschauen und zu überlegen: Wie kann dieser Elternteil vielleicht die bisher nicht gemachten Erfahrungen ein Stück weit nachholen bzw. mehr Erfahrungen sammeln?
Denn Sicherheit kommt durchs Tun und Erleben!

Und da sind wir wieder mitten beim ersten Impuls. Gibt`s z.B. die Möglichkeit eines Mama- bzw. Papa-Kind-Tages? Oder könnten beide (Elternteil und Kind) ein gemeinsames Hobby aufbauen, das sie verbindet? Oder gibt`s vielleicht eine Therapie, die beide immer gemeinsam besuchen und für die sie zusammen üben?

3. Sich in der Partnerschaft gegenseitig Neues zeigen

Manchmal bleibt es auch (vorerst) so, dass der eine Elternteil „Experte“ in Sachen Förderung und Hemiparese ist und der andere nicht so viel weiß.
Das ist ja auch absolut in Ordnung, nicht jede/r muss sich in alles reinlesen, recherchieren, ganz viel ausprobieren usw.

Im Gegenteil, manchmal kann es total hilfreich sein, wenn beide unterschiedlich an die Förderung und Erziehung ihres Kindes herangehen. Das Kind kann von beiden Perspektiven profitieren und auch die Partnerschaft, wie schon bei den Vorteilen erwähnt.

Falls Ihr jedoch merkt, es nervt Euch gelegentlich, dass eine/r immer der/die ExpertIn fürs Kind ist, könnte es ebenfalls helfen, wenn Ihr Euch gegenseitig ab und zu Neues zeigt und beibringt.
Möglicherweise ist der/die eine Profi für`s Kind, dafür kann der/die andere besonders gut kochen, klettern, Vorträge halten, Menschen unterhalten oder… oder… Dann könnte es Sinn machen, dass Ihr Euch durch Eurer jeweiliges Expertengebiet Neues beibringt.
Das schafft Verbindung und jede Menge Gesprächsstoff.

Vielleicht probiert Ihr`s mal aus. Ganz viel Erfolg Euch dabei!

Zu der Dynamik, die ich hier beschrieben habe, könnte ich natürlich noch deutlich mehr erzählen und sie aus vielen weiteren Perspektiven beleuchten. Manches ist hier auch vereinfacht dargestellt, damit der Newsletter nicht zu lang wird.

Mir war es wichtig, dieses Thema mal in den Blick zu nehmen, einfach weil es sich häufig schleichend entwickelt und manchmal zu einer richtigen Herausforderung in der Partnerschaft werden kann. Aber es gibt auch Möglichkeiten, wie man dieser Herausforderung begegnen und wie man sie lösen kann, wenn beide dafür offen sind.

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