Wie behindert bist du eigentlich?!

In den Sportverein mit Hemiparese – Geht das?

„Mein Kind will Fußball spielen …

„Mein Kind will Schlagzeug spielen lernen …

„Mein Kind möchte in eine Tanzgruppe …

… sollen wir das machen, trotz seiner/ihrer Hemiparese?“

Diese Frage taucht in meinen Coachings mit Eltern immer wieder auf. Und genau deshalb will ich auch hier näher darauf eingehen.

Vorab:  Jedes Kind und jede Situation ist individuell!

Deshalb ist es gar nicht möglich, diese Frage pauschal mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten. Ich will dennoch mit Dir 3 Gedanken teilen, die Dir dabei helfen können, Entscheidungen wie diese leichter zu treffen.

  1. Klar, Sicherheit geht vor!

Wenn Dein Kind etwas lernen will, das zu gefährlich für es ist oder einfach nicht möglich, geht`s nicht! Ein Kind, das beispielsweise Rollschuhe laufen will, jedoch nach wie vor große Schwierigkeiten beim Laufen hat, kann das noch nicht lernen.

Und auch wenn Physiotherapeuten oder Ärzte davon abraten, diesen oder jenen Sport auszuführen, liegt die Antwort klar auf der Hand.

Dann lohnt es, gemeinsam zu überlegen:

Was gefällt ihm/ihr eigentlich an dem Sport bzw. dem Hobby?

Beispielsweise die Bewegung? Das Miteinander in der Gruppe? Die Arbeit mit dem Ball? Vielleicht auch die Bewunderung von anderen, die er/sie sich durch den Sport verspricht?

Und dann kann man gemeinsam schauen, wie man in diesem speziellen Fall vorgehen kann (vielleicht kleinschrittig). Oder ob es mögliche Alternativen gibt, bei denen die Bedürfnisse des Kindes auch abgedeckt werden.

  1. Die Angst vor Misserfolgen des Kindes

Die meisten Eltern, mit denen ich gesprochen habe, haben bei dieser Frage jedoch ein ganz anderes Thema: Sie machen sich Sorgen darum, was passiert, …

… wenn ihr Kind bei diesem Sport oder dem Hobby (ständig) Misserfolge sammelt und/oder

… wenn es merkt, dass es nicht mit anderen mithalten kann.

Und das ist absolut verständlich! Schließlich wissen wir aus eigener Erfahrung: Misserfolge und Niederlagen können einen unglaublich runterziehen, traurig machen, ggf. auch das Selbstvertrauen schmälern.

Und mit Hemiparese kommt man, gerade im sportlichen Bereich, oftmals schneller an die eigenen Grenzen als andere Kinder.

Ich weiß das sehr gut aus eigener Erfahrung!

Es gab immer wieder Situationen in meiner Kindheit, in denen ich gemerkt habe: Ich kann nicht mithalten. Zwei, die mir spontan einfallen:

Ich war etwa 11 Jahre alt und hatte, wie seit vielen Jahren, einmal wöchentlich Reitunterricht. Meine Reitgruppe und ich haben vor ca. einem Jahr das kleine Hufeisen gemacht (das 1. Reitabzeichen). Jetzt, ein Jahr darauf, sollte meine Gruppe anfangen, Springen zu üben. Das schien für mich zu diesem Zeitpunkt unmöglich, weshalb ich die Gruppe wechseln musste. Ich trainierte fortan wieder mit denjenigen, die gerade ihr kleines Hufeisen gemacht hatten. Ein Jahr später das gleiche Spiel. Ich wechselte erneut die Gruppe.

Das war nicht leicht für mich! 1., weil mir die Gruppe über die Zeit echt ans Herz gewachsen war und ich sie verlassen musste und 2., weil ich merkte: Ich kam nicht weiter.

Ein anderes Beispiel: Ich war 14, 15 Jahre alt und in einer Musical-Gruppe. Wir führten ein Stück mit vielen Tanznummern auf.

Im Tanztraining nahm ich natürlich wahr, dass ich meinen rechten Arm nicht so weit strecken konnte wie die anderen, dass ich oft zu langsam war, meine Hüften nicht so bewegen konnte uvm.

So richtig negativ fiel es mir aber erst auf, als unsere neue Tanzlehrerin mir empfahl, mich während der Tanznummern lieber im Hintergrund aufzuhalten oder gar nicht mitzutanzen. Das war echt fies und eine blöde Erfahrung.

Beide Erlebnisse hätten vermieden werden können, indem ich gar nicht erst hingegangen wäre.

Gleichzeitig hätte ich dabei aber auch echt viel verpasst!

Beim Reiten etwa die tolle Beziehung, die man mit Pferden aufbauen kann, die Freundschaften, die währenddessen entstanden sind, die Meisterung meiner „ersten großen“ Prüfung, die vielen, tollen Ausritte, nicht zu vergessen: Die Verbesserung meines Gleichgewichts und meiner Handmotorik.

Bei der Musical-Gruppe die Bühnenerfahrung, den Gesang- und Schauspielunterricht, die lustigen Proben-Wochenenden, die Freundschaften uvm.

Insofern bin ich im Nachhinein sehr froh, dass ich die Möglichkeit hatte, beides zu machen. Die positiven Erfahrungen, die ich dort gesammelt habe, überwiegen bei weitem die negativen.

Deshalb überlege ich heute mit Eltern im Coaching immer auch:

Wo liegen mögliche Chancen für Dein Kind bei der neuen Sportart, dem Instrument oder Hobby?

  • Beim Fußball z.B.: Spaß an Bewegung, vielleicht neue Freundschaften, Zusammenspiel in der Gruppe, sicheres Laufen und Rennen durch regelmäßiges Training…
  • Beim Schlagzeug spielen z.B.: Freude an Musik, Entwicklung von Rhythmusgefühl, viel beidhändig arbeiten – die betroffene Hand kommt mehr ins Bewusstsein…
  • Beim Tanzen z.B.: Rhythmusgefühl, Verbesserung der Hand-Fußkoordination und ein besseres Körpergefühl, neue Freundschaften, Freude an Bewegung und Musik…

Klar kann manches davon wiederum eine Herausforderung für Dein Kind sein, aber auch eine große Chance für jede Menge positiver Erfahrungen.

Und sollte sich dieses Verhältnis im Lauf der Zeit ändern (die negativen Erlebnisse überwiegen die positiven), könnt Ihr immer noch nach Alternativen Ausschau halten.

Misserfolge ersparen wollen

Ein weiterer Gedanke, der mir an dieser Stelle einfällt: Ich weiß von vielen Eltern, dass sie ihrem Kind mit Handicap am liebsten sämtliche negativen Erlebnisse ersparen wollen. Das Kind hat es schließlich schon schwer genug.

Ich kann`s total gut verstehen und dennoch: Negative Erfahrungen macht es so oder so, früher oder später. Vielleicht jetzt nicht beim Fußball, Schlagzeug spielen oder Tanzen, dann aber später beispielsweise im Sportunterricht, beim Wander- oder Kletterausflug in der Schule, beim Tanzen später in der Disco.

Es wird immer Momente geben, in denen es an seine Grenze kommt, genau wie jedes andere Kind ohne Handicap auch. Auch Kinder ohne Handicap machen negative Erfahrungen, lernen worin sie gut sind, aber auch worin nicht.

Ich bin davon überzeugt: Es geht nicht darum, Kindern negative Erfahrungen zu ersparen, sondern ihnen zu helfen, damit umzugehen und vielleicht sogar daran zu wachsen.

Da fällt mir ein: Hätte unsere Tanzlehrerin damals nicht zu mir gesagt, ich solle mich während des Tanzens besser im Hintergrund aufhalten, würde ich heute vermutlich weniger selbstbewusst mit meiner Hemiparese umgehen.

Denn in dem Moment haben sich meine Eltern für mich stark gemacht und mit der Tanzlehrerin und dem Leiter der Gruppe ein paar Takte gesprochen.

Danach war ich beim Tanzen immer vorne mit dabei. Meine Eltern haben mir in diesem Moment gezeigt, wie ich zukünftig für mich selbst und das, was ich will, einstehen kann. Vielleicht hätte ich das sonst erst sehr viel später gelernt.

  1. Probieren geht über langes Grübeln!

Die meisten Vereine und Gruppen bieten kostenfreie Schnupperstunden an. Besuche sie gemeinsam mit Deinem Kind.

Sprich` Dich vielleicht vorab auch mit dem potentiellen Trainier oder Lehrer Deines Kindes ab. Möglicherweise hat er schon Erfahrungen mit Kindern, die ein Handicap haben. Und falls nicht, frage ihn, ob er dafür offen ist und es ausprobieren würde.

Und dann grüble nicht lange: Probiert es zusammen aus und überlegt danach: Passt der Sport, das Instrument, das Hobby oder passt es nicht?

Was denkst Du über dieses Thema? Schreibe es in die Kommentare!

Ich freue mich darauf!

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