Wie behindert bist du eigentlich?!

Hochzeit mit Hemiparese

Mein Brautkleid – Ein richtiges Trainingsgerät

Es war die 3. und letzte Anprobe meines Brautkleides. Ich stand vor dem riesigen Spiegel im Ankleideraum und war sprachlos. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin!

Es war ein bodenlanges Kleid mit Reifrock.

Und dann sagte mir die Schneiderin: „Gehen Sie am besten immer zu zweit auf die Toilette. Sie brauchen dabei Hilfe.“

Oh man! Mein persönlicher Alptraum! 

Denn auf der Toilette habe ich gerne meine Ruhe! Ich wollte nicht, dass irgendwer dabei war, selbst, wenn es meine beste Freundin war. Überhaupt bin ich ein Mensch, der am liebsten alles selbst schafft und unabhängig ist!

Der Mann, der mir das Brautkleid vor ein paar Monaten verkauft hatte, sagte mir damals: Ich könnte damit auf jeden Fall alleine auf die Toilette gehen. Die Schneiderin würde mir eine Technik zeigen. Jetzt sagte die Schneiderin aber etwas ganz anderes! Ich würde es nicht hinkriegen! Warum sie es sagte, keine Ahnung. Vielleicht, weil ihr aufgefallen war, dass ich eine Hemiparese hatte und motorisch scheinbar nicht so fit war wie andere. Vielleicht hätte sie das gleiche aber auch zu jeder anderen Frau gesagt, keine Ahnung und war mir im Prinzip auch egal. Ich hatte nur definitiv keine Lust, zu zweit auf`s Klo zu gehen.

Meine Mutter, die bei der Anprobe dabei war, versuchte mich zu beruhigen, indem sie sagte: „Das kriegen wir schon hin. Ist halt so!“

Schon in dem Moment hatte ich beschlossen:

Ich schaffe es, mit dem Kleid alleine auf Klo zu gehen!

Ich würde es üben, genau wie alles andere auch!

Und ich übte es; besser gesagt: Ich entwickelte eine Strategie!

Die Schneiderin sagte mir, ich solle am besten vorwärts auf die Toilette gehen, damit die hintere Seite des Brautkleids (die ist immer etwas länger als die vordere) nicht zwischen mir und der Wand hinter mir eingeklemmt werden muss.

Ich probierte es ein paar Mal aus in meinem Brautkleid, vorwärts auf die Toilette zu gehen, aber ich verlor jedes Mal das Gleichgewicht und kippte nach links weg. Kein guter Plan!

Ich probierte es, wie gewohnt auf Toilette zu gehen; rückwärts. Hierfür klemmte ich den Reifrock nach oben und stopfte dort sämtliche Lagen Tüll und Stoff rein, hielt den Reifrock mit beiden Händen hoch und setzte mich hin.

Zugegeben, es kostete einige Kraft, das ganze Kleid oben zu halten, während ich saß, aber es ging; völlig ohne Hilfe! Ich wusste es!

Und ich übte auch alles andere, was man in einem solchen Kleid können muss!

… langsam laufen z.B. Zum Altar muss man nämlich langsam schreiten; nicht ganz so meine Stärke. Schnelleres Laufen ermöglichte mir, vor allem in Schuhen mit Absatz, das Gleichgewicht zu halten. Wenn ich langsam lief, fiel mir das bisher ziemlich schwer. Ich stolperte schnell.

Aber nachdem ich es ein paar Mal zusammen mit meiner Mutter trainiert hatte, klappte es deutlich leichter.

Und ich trainierte Treppenlaufen mit dem Kleid; auch eine ganz schöne Hausnummer, denn es bestand ständig die Gefahr, dass ich mit einem Fuß am Kleid oder Reifrock hängen blieb und das Gleichgewicht verlor.

Über all das hatte ich mir bisher wenig Gedanken gemacht. Im Nachhinein denke ich: Zum Glück! Denn sonst hätte ich mich vermutlich wochenlang verrückt gemacht.

Trotzdem bekam ich in diesem Moment auf der Treppe ganz schöne Panik, das alles hinzubekommen. Kurz ärgerte ich mich sogar, dass ich mich für dieses voluminöse Brautkleid entschieden hatte. Wie konnte ich im Vorfeld so gedankenlos sein und es mir selbst an meinem großen Tag so schwer machen?

Zum Glück weiß ich inzwischen: In Panik verfallen bringt gar nichts!

Im Gegenteil, es führt dazu, dass ich die ganze Sache (in Gedanken) viel schlimmer mache als sie ist.

Also atmete ich ein paar Mal tief ein und aus und übte das Treppenlaufen immer und immer wieder. Ich hielt mich dabei mit meiner linken Hand am Geländer oder an der Wand fest; je nach dem, was gerade links war.

Ich fiel kein einziges Mal hin, sicher fühlte ich mich trotzdem erstmal nicht.

Der große Tag kam!

Ich war sehr aufgeregt und freute mich riesig. Und ich dachte bewusst wenig an das, was alles schief gehen konnte. Mein gedankliches Stopp-Schild half mir dabei sehr. Immer, wenn ich mir vorstellte, „Was ist, wenn ich stolpere?“, sagte ich in Gedanken „Stopp“ und dachte bewusst an etwas anderes; an unsere Flitterwochen z.B. oder an meine letzten Erfolge mit meiner Hand.

Und meine Stylistin, die mir Haare und Make-up machte, lenkte mich auch gut ab, indem sie mir Fragen über die Hochzeit stellte.

Und dann war es auch schon soweit! Ich stand fertig gestylt und in meinem Brautleid im Flur. Meine Mutter fuhr mich zu unserer Hochzeitlocation, wo mein Zukünftiger, unsere Familien und Freunde schon im Trausaal warteten.

Auf dem Weg dorthin: 4 Treppen, 2 runter (bei uns zu Hause) und 2 wieder rauf, um in den Trausaal zu kommen.

Ich war sehr froh, das Treppenlaufen im Vorfeld geübt zu haben. Es war herausfordernd, aber ich ging extra langsam und so klappte es, ohne dass ich hängen blieb.

Und als ich in den Trausaal einzog, vergaß ich sowieso alles um mich herum. Es war so aufregend, unsere ganzen Gäste zu sehen, den Saal und natürlich meinen Mann. Mein Brautkleid wurde dabei zur Nebensache. Ich lief einfach, ohne groß darüber nachzudenken.

Die Trauung, der Empfang und der ganze Abend waren einfach wunderschön! Es passte alles! Von der Traurede der Standesbeamtin, die Deko in der Location, die Stimmung unserer Familien und Freunde, das Essen, die Reden usw. Mein Mann und ich waren super happy.

Und mein Brautkleid?

Im Verlaufe des Tages gewöhnte ich mich immer mehr an es. Jede Treppe, die ich lief, fiel mir ein bisschen leichter. Ich wusste nach ein paar Mal ganz genau, wie ich es halten musste, damit ich nicht stolperte. Das Tanzen am Abend klappte auch erstaunlich gut! Ich konnte mich nicht so viel hin und her bewegen wie sonst in T-Shirt und Jeans. Aber es machte mega viel Spaß, mich in dem Kleid zu drehen. Es schwang so schön!

Ein paar Mal stolperte ich dann doch, wenn ich z.B. zu schnell lief. Aber ich fing mich jedes Mal wieder und kippte nicht um.

Und ich schaffte es sogar, entgegen der Meinung der Schneiderin, komplett alleine auf die Toilette zu gehen. Klar, ich brauchte meine Zeit, aber als Braut darf man sich schließlich so viel Zeit nehmen, wie man will ;).

Alles in allem habe ich das Kleid gerockt und darauf bin ich ziemlich stolz!

Hast Du auch mit Hemiparese geheiratet? Wie kamst Du mit Deinem Brautkleid zurecht? Schreibe es in die Kommentare!

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