Schwerbehindertenausweis – ein Stempel oder nicht?
Neulich hatte ich mit einer meiner Klientinnen ein spannendes Gespräch rund um ihre Frage:
„Soll ich einen Schwerbehindertenausweis beantragen oder nicht?“
Sie ist Anfang 20 und hat ihre Hemiparese, genau wie ich, von Geburt an. Bisher hat sie keinen Ausweis beantragt, denn es gibt so den ein oder anderen Grund, der sie zögern lässt. Ich kann sie total gut verstehen und ich glaube, es geht einigen so.
Ein Thema ist z.B. die Sorge vor dem Stempel…
Mit einem Schwerbehindertenausweis hat man das Handicap schwarz auf weiß, man ist sozusagen „schwerbehindert“. Dieses Wort… ich mag`s einfach nicht!
Hinzu kommt: Wenn man mit einer Hemiparese aufwächst, ist es oft so, dass man auch damit versucht, möglichst alles zu schaffen. Das heißt, man legt den Fokus häufig darauf, was geht und wie es gehen kann und weniger auf die „Einschränkungen“, die das Handicap mit sich bringt.
Denn man kennt es nicht anders und der Körper ist nun mal wie er ist.
Natürlich ist hier jede/r unterschiedlich. Und gleichzeitig ist es genau das, was ich in Coachings immer wieder beobachte.
Mit dem Ausweis bzw. dem Antrag ändert sich dieser Fokus ein Stück weit. Hier muss man sich mit der Diagnose und ihren Konsequenzen befassen; beim Antrag schreiben, beim Zusammensammeln früherer Arztberichte, möglicherweise bei Untersuchungen, die noch zu machen sind usw.
Und gerade, wenn man sich normalerweise nicht so sehr damit beschäftigt, sondern eher damit, den Alltag erfolgreich zu meistern, macht das etwas mit einem. Man wird ans Handicap erinnert, die Gedanken kreisen (wieder) mehr darum und das kann unangenehm oder auch schmerzhaft sein.
Deshalb empfehle ich immer auch, wenn man sich mit Anträgen wie diesen befasst,
- dafür bewusst Zeiten festzulegen,
- innerhalb dieser Zeit gedanklich in die Rolle des Antragstellers/ der Antragstellerin zu schlüpfen
- und danach aber auch wieder bewusst darauszukommen. Z.B. indem man anschließend eine Runde spazieren geht oder fährt, die Lieblingsmusik anmacht, um wieder gute Laune zu bekommen oder das tut, was einem gefällt.
Dadurch kriegt man den Kopf wieder frei für anderes, Positiveres.
Ein Vorteil des Ausweises:
Man kann selbst entscheiden, wem man den Ausweis zeigt und wem nicht. Man ist nicht verpflichtet, ihn vorzuzeigen. Wenn man will, bleibt er in der Tasche.
Als ich das erfuhr, hatte ich ein bisschen weniger das Gefühl, dass man sich mit einem Ausweis einen Stempel verpasst.
Klar, wenn man den Ausweis für sich behält, kann man ggf. auch nicht von seinen Vorteilen profitieren (z.B. besonderer Kündigungsschutz, mehr Urlaubstage). Aber man hat es selbst in der Hand, wann und wo man ihn nutzt.
Ein weiterer Gedanke:
Es kommt auch darauf an, wie man selbst diesen Ausweis sieht: als Stempel oder auch als mögliches Hilfsmittel, das mir hier und da Vorteile bringen kann.
Hier macht es Sinn, genauer hinzuschauen und für sich zu prüfen, welche Vorteile das im einzelnen sind. Je nach Grad der Behinderung und der Merkzeichen können das ja ganz unterschiedliche sein.
Eine gute Übersicht findest Du bei betanet:
Nachteilsausgleiche durch den Grad der Behinderung
Nachteilsausgleiche durch Merkzeichen
Ebenfalls bei betanet:
Eine Zusammenfassung mit einigen Infos rund um den Antrag auf Schwerbehinderung – z.B. wie der Grad der Behinderung ermittelt wird, Praxistipps sowie ganz unten: eine kleine Einschätzung darüber, welchen GdB man für welche Diagnose bekommen könnte.
Falls das interessant für Dich ist, schaue mal hier vorbei.
Und, wenn man weiß, welche Ausgleiche es gibt, kann man schauen: Lohnt sich das für mich oder nicht?
Last but not least: Das Thema Arbeit und Schwerbehinderung
Aus Gesprächen weiß ich: Viele haben die Sorge, mit einem Schwerbehindertenausweis keine Arbeit zu finden. Ist total berechtigt. Denn bis heute gibt es Unternehmen, die sich z.B. von dem besonderen Kündigungsschutz, den Menschen mit Schwerbehinderung haben, abschrecken lassen (oft, weil sie ihn missverstehen – Kündigungsschutz bedeutet nicht Unkündbarkeit).
Und gleichzeitig sind gerade große Unternehmen dazu verpflichtet, Menschen mit Handicap einzustellen und eine gewisse Quote zu erfüllen. Darüber hinaus können sich Unternehmen ggf. finanziell fördern lassen, wenn sie Menschen mit Handicap beschäftigen. Daher kann der Ausweis möglicherweise auch zum Vorteil werden, wenn es um den Job geht.
Es ist eine Frage der Abwägung, für die es sich lohnt, Zeit zu nehmen.
By the way, ich selbst habe zwar einen Grad der Behinderung von 30 seit meiner Kindheit, habe aber bisher keinen weiteren Antrag auf Schwerbehinderung gestellt. (Einen Schwerbehindertenausweis bekommt man ab einem GdB von 50.)
Und das eben auch, weil ich mir für diese Frage einfach noch ein wenig Zeit lassen will.
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