Eine Geschichte über einen Jungen mit Hemiparese: Wut und Frust in der Grundschule
Vorher:
Heute will ich Dir eine kleine Geschichte vorlesen, die ich eigentlich für ein Elternseminar geschrieben habe, das ich vor kurzem geleitet habe. Im Seminar ging es u.a. viel um das Thema Wut des Kindes und den Umgang damit. Im Nachgang habe ich viele positive Rückmeldungen zu der Geschichte bekommen, so dass ich gedacht habe, ich lese die Geschichte einfach auch mal hier vor.
Es ist eine Geschichte über einen Jungen mit Hemiparese, der seit kurzem in die 1. Klasse geht, über seinen Alltag und vor allem seinen Schulalltag.
Und sie zeigt ein bisschen, mit wie vielen kleineren und größeren Frustmomenten so ein Schultag gespickt sein kann, wodurch dann und wann, bei vielen auch ganz regelmäßig nachmittags, abends Wutausbrüche entstehen können.
Klar, jedes Kind ist anders und erlebt seinen Alltag anders. Gleichzeitig geht es vielen Kindern mit Handicap ähnlich im Hinblick auf Frustmomente. Man muss einfach viel aushalten und seine Frustrationstoleranz häufig auch mehr trainieren als andere Kids. Einfach weil der Körper mehr bzw. einfach andere Grenzen hat.
Und vielleicht kann Dir diese Geschichte dabei helfen, die Wut Deines Kindes noch besser nachzuvollziehen. Oder möglicherweise gibst Du dieses Video auch weiter an Verwandte, Oma, Opa, so dass sie einen kleinen Einblick in den Alltag Deines Kindes bekommen können.
Auf jeden Fall: Lass uns starten mit der Geschichte:
Die Geschichte
Toni wird, wie jeden Morgen, von seiner Mama geweckt. Jetzt heißt es Beeilung, denn die Schule geht bald los. Toni muss sich waschen, Zähne putzen und anziehen. Doch diese blöden Socken wollen, so wie fast jeden Tag, einfach nicht über den Fuß.
Eigentlich hat er mittlerweile gelernt, sich viel alleine anzuziehen – die Hose, das T-Shirt, manchmal klappt sogar das Schuhe-Anziehen – dann, wenn sie gut sitzen. Aber diese blöden Socken, die wollen einfach nicht und Toni schimpft ein bisschen vor sich hin.
Egal, Mama hilft, nachdem Toni es einige Male versucht hat.
Die Tasse fällt!
Dann gibt`s Frühstück. Doch auch da läuft nicht alles rund. Die Kakao-Tasse fällt Toni aus der Hand und landet scheppernd erst auf dem Frühstückstisch, bevor sie dann auf den Boden knallt.
Mama und Papa reagieren gestresst. Eigentlich müssen Papa und Toni jetzt los zur Schule und Mama im Homeoffice anfangen zu arbeiten. Nun steht erstmal Boden- und Tischwischen auf dem Programm…
Auf zur Schule!
Zehn Minuten später machen sich Toni und Papa schließlich auf den Weg zur Schule. Toni besucht erst seit kurzem die 1. Klasse und ist daher jeden Morgen noch ein bisschen aufgeregt. Was ihn heute wohl erwartet?
In der Schule angekommen setzt Papa Toni vor der Klasse ab und macht sich auf den Weg zu seiner Arbeit. Vor der Klasse wartet bereits Mia. Sie ist seine erwachsene Begleiterin in der Schule, die ihm hilft, wenn er etwas nicht schafft.
In den ersten zwei Schulstunden lernt Toni viel – ein paar Buchstaben und erste Rechenaufgaben mit dem Pluszeichen.
Das Namensschild
In der dritten Stunde treffen er und die Klasse eine neue Lehrerin – Frau Mück. Sie wird Musik unterrichten. Doch zunächst heißt es Namensschilder basteln, damit Frau Mück auch weiß, wer so alles vor ihr sitzt.
Sie hat gelbe Pappe, Scheren und viele Stifte mitgebracht und fordert die Klasse auf, damit das Schild zu basteln.
Motiviert fängt Toni an. Mia, seine Schulbegleiterin, holt ihm die Schere, ein Stück Pappe und zwei Stifte und er legt los. Doch schon nach kurzer Zeit merkt er: Die Schere nutzen und gleichzeitig das Papier festhalten – das ist nach wie vor unheimlich schwer für ihn. Entweder ihm fällt die Schere aus der Hand oder die Pappe. Manchmal verkrampft auch seine betroffene Hand und zerknüllt dabei die Pappe. So ein Ärger!
Die anderen Kinder schreiben bereits ihren Namen auf das ausgeschnittene Schild und sind fast fertig. Er kommt beim Schneiden nur sehr langsam vorwärts.
Mia fragt Toni schließlich, ob sie ihm helfen könne und er reicht ihr zögerlich die Schere und Pappe. Misst, eigentlich wollte er das selbst schaffen… Jetzt ist keine Zeit mehr! Der Unterricht muss weitergehen.
Die große Pause und das Klettergerüst
Später, in der nächsten großen Pause spielen Toni und ein paar Jungs aus seiner Klasse am Klettergerüst des Schulhofs. Die anderen können es immer kaum erwarten, bis ganz nach oben zu kommen und dort herumzutoben. Für Toni ist das eine riesige Herausforderung. Da hochzukommen, während sich die anderen auf dem Gerüst hin und her bewegen – eine richtige Mutprobe, auch weil sein Gleichgewicht ihn manchmal im Stich lässt! Oft schafft er es daher nur ein paar Sprossen hoch. So auch heute.
Ein Junge aus der Parallelklasse sitzt bereits oben auf dem Gerüst und fragt in Tonis Richtung: „Warum kannst Du denn nicht weiter hochklettern? Bist Du behindert?“
Toni weiß nicht so recht, was er darauf sagen soll. Manchmal erzählt er anderen von seiner Einschränkung, was er kann und was nicht. Heute ist ihm nicht danach, schon gar nicht, wenn der Junge so blöd fragt. Toni steigt kurzerhand vom Klettergerüst und geht in Richtung seiner Schulbegleiterin Mia.
Der Parcours-Erfolg
Die letzte Stunde an diesem Tag ist Sport und der Lehrer Herr Rau hat bereits einen kleinen Hindernisparcours aufgebaut, als die Klasse die Sporthalle betritt. Der Parcours besteht aus Reifen, umgedrehten Bänken, über die man balancieren kann, ein paar Matten und der Sprossenwand ganz hinten in der Halle.
Nach und nach durchlaufen die SchülerInnen den Parcours, einige gleich mehrfach. Dann ist Toni an der Reihe. Er beginnt mit den ersten Hindernissen und freut sich, denn er schafft sie. Lediglich beim Balancieren braucht er eine helfende Hand von Mia. Gut, dass er in der Physio schon häufiger Parcours wie diese durchlaufen hat!
Herausforderung Fangen
Zum Schluss schlägt Herr Rau vor, noch eine Runde Fangen zu spielen. Eigentlich ist Toni schon ganz schön müde von dem Parcours. Aber er will natürlich mitmachen. Ist ja klar!
Ein Schüler wird zum Fänger erklärt und bekommt ein rotes zusammengeknotetes Fitnessband umgehängt. So können ihn die anderen Kinder als Fänger erkennen. Auf ein Startzeichen von Herrn Rau rennen die Kinder schreiend und kreischend los und vor dem Fänger-Kind weg. Denn, wenn das Fänger-Kind sie berührt, werden sie selbst zum Fänger und der vorherige wird zum Gejagten.
Auch Toni läuft los, deutlich langsamer als die anderen, doch das interessiert ihn gerade nicht. Er will nur nicht gefangen werden, das ist seine Mission! Zwei Runden geht das auch gut. Doch dann läuft die neue Fängerin hinter ihm her. Sie ist ihm dicht auf den Fersen und bekommt ihn schließlich am Arm zu fassen. Missmutig hält Toni an, hängt sich das Fitnessband um, das das Mädchen ihm hektisch reicht und läuft weiter. Die anderen flüchten jetzt vor ihm. Und sie sind verdammt schnell und wendig.
Toni steht immer wieder kurz davor, jemanden zu fangen, aber im letzten Moment sind seine MitschülerInnen immer schneller. Doof! Herr Rau beendet die Stunde, noch bevor Toni jemanden fangen kann. Genervt und außer Atem reicht er das Fitness-Fänger-Band Mia und geht durch die Umkleiden nach draußen.
Die Verarbeitung kann beginnen!
Zum Glück ist Mama gleich da und holt ihn von der Schule ab. Auf dem Schulhof, umringt von anderen Kindern und Mia, gelingt es ihm, ruhig und entspannt zu bleiben. Doch schon nach wenigen Minuten im Auto kann er sich einfach nicht mehr zusammenreißen.
Er tritt wütend gegen den Sitz vor ihm, brüllt und schreit seine Mama bitterböse an. Sie weiß natürlich gar nicht, was los ist. Aber das ist Toni egal. Er ist wütend. Natürlich nicht auf seine Mama, sondern auf den heutigen Tag, die vielen kleinen und größeren Frustmomente.
In der Schule gelingt es ihm meist, seine Gefühle im Griff zu haben. Das macht ein großer Schuljunge doch! Aber wenn seine Eltern da sind, kann er sich fallen lassen und das, was ihm passiert ist, lautstark be- und verarbeiten.
Hintergründe zur Geschichte
Soweit die Geschichte. Ich habe bewusst das Ende offengelassen, weil es mir dabei nicht darum ging, Lösungen aufzuzeigen, sondern vor allem darum, die Situation von vielen Kindern mit Handicap zu beschreiben. Später im Seminar haben wir uns natürlich auch mit Handlungsmöglichkeiten rund um das Thema befasst, doch zunächst ging es vor allem darum, sich gemeinsam mal so einen möglichen Alltag anzuschauen. Wie gesagt, jedes Kind erlebt es ein wenig anders.
Mich würde natürlich interessieren:
Was nimmst Du für Dich daraus mit? Erkennst Du vielleicht Parallelen zu Deinem Kind? Schreibe es gerne mal in die Kommentare.
Was mir an der Geschichte einfach wichtig war:
Zu zeigen, dass ein Wutausbruch häufig nicht aus dem Nichts kommt, sondern dass das Kind oftmals schon im Vorfeld den ein oder anderen Frustmoment hatte, manchmal sogar gleich mehrere hintereinander.
Auch dass seine Eltern oftmals gar nichts falsch gemacht haben, sondern es wütend ist auf seinen Tag, die Momente, in denen ihm Dinge nicht gelungen sind oder auf sich selbst.
Und dass seine einzige Lösung, die Möglichkeit, den Tag zu verarbeiten, in dem Moment der Wutausbruch ist, den es zu Hause oder bei Mama/Papa haben kann, weil es sich dort sicher und geborgen fühlt. Es kann seinen Gefühlen freien Lauf lassen.
Schreibe, wie gesagt, unbedingt mal in die Kommentare:
Was nimmst Du für Dich daraus mit? Erkennst Du vielleicht Parallelen zu Deinem Kind?
Auch als Video:
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