Wie behindert bist du eigentlich?!

Wie mit mitleidigen Blicken von anderen umgehen?

Ein Thema, das viele Eltern von Kindern mit Handicap haben: Das Gefühl, gelegentlich oder auch ganz regelmäßig mitleidige Blicke von anderen zu bekommen – z.B. auf dem Spielplatz, wenn das Handicap ihres Kindes auffällt, beim Einkaufen mit dem Kind, bei Kindergeburtstagen oder… oder… Häufig von anderen Eltern oder Großeltern.

In jedem Fall: Viele haben den Eindruck, sich ständig für das Handicap ihres Kindes rechtfertigen oder es erklären zu müssen. Kein gutes Gefühl! Gerade, weil man ja vielleicht manchmal auch noch selbst damit struggelt.

Erlebst Du das ähnlich mit den Blicken bzw. dem Gefühl, Dich rechtfertigen zu müssen?

Wie damit umgehen?

Knifflige Frage, denn es gibt viele Möglichkeiten und auch Perspektiven, auf die es sich lohnt, zu schauen. Sicherlich hängt die Reaktion/ der Umgang damit auch mit der jeweiligen Situation zusammen und der Stimmung, in der man gerade ist.
Wenn man z.B. ausgeschlafen ist und gute Laune hat, sieht der Umgang damit möglicherweise ganz anders aus, als wenn man fertig und gestresst ist. Man kann die Blicke vielleicht besser ignorieren oder das Handicap geduldiger erklären oder die Person mit dem mitleidigen Blick einfach anlächeln, um zu zeigen, dass man ihr Mitleid nicht braucht oder… oder…

Sprich, die Entscheidung, wie man damit umgeht, kann von Tag zu Tag ganz unterschiedlich sein und das ist auch okay! Schließlich kann man nicht die ganze Welt aufklären. Ist auch die Frage, ob man das muss oder sollte. Ich denke nicht!

Bevor wir uns mit den möglichen Reaktionen beschäftigen, ein Gedanke von mir:

In der Zeit, in der ich noch mehr mit meiner Hemiparese gehadert habe, habe ich mich oft gefragt:
„Hat er/sie meine Behinderung jetzt gesehen?“
„Was denkt er/sie darüber?“
„Bestimmt findet er/sie mich jetzt komisch, oder?“

Einen finalen Beweis, ob ich mit meinen Fragen richtig lag, habe ich nie bekommen und dennoch habe ich mir die Fragen immer wieder gestellt. Und zwar bis mich mein Coach mit diesem Satz konfrontierte:
„Jede/r darf denken, was er bzw. sie will!“

So schwer es mir damals auch fiel, aber sie (mein Coach) hatte Recht! Was eine Person denkt oder nicht, entscheidet sie selbst.

Was mein Coach mir darüber hinaus klarmachte: In dem Moment, in dem ich darüber nachdenke, dass eine Person Negatives über mich denken könnte, verurteile ich sie und werfe ihr etwas vor, was ich überhaupt gar nicht weiß. Ich denke für die Person und das ist unfair!

Seither versuche ich, mir weniger den Kopf der anderen zu zerbrechen und es funktioniert erstaunlich gut! Ich überlege mir dann z.B. andere Gründe, weshalb die Person gucken könnte. Vielleicht weil ich heute so tolle Haare habe, weil ihr mein Pulli gefällt oder weil ich sie an jemanden erinnere.

Witziger Weise fallen mir seither Blicke von anderen auch gar nicht mehr so auf. Ich konzentriere mich auf andere Dinge. Eventuell könnte Dir das je nach Situation auch schon helfen!

Anyway, manchmal weiß man einfach: Die Person guckt gerade definitiv wegen des Handicaps meines Kindes!

Vielleicht hat sie sogar etwas deswegen gefragt oder spricht gerade flüsternd mit jemand anderem darüber.
Und schon ist das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen wieder da.

Was ich wichtig finde:

Du bist nie, wirklich NIE dazu verpflichtet, das Handicap Deines Kindes zu erklären oder Dich dafür zu rechtfertigen – außer vielleicht bei ÄrztInnen, LehrerInnen und ErzieherInnen, da sie intensiv mit Deinem Kind zusammenarbeiten und sie es daher wissen sollten.
Bei allen anderen: Wenn Du nicht willst, musst Du es nicht erzählen! Du hast keinen Aufklärungsauftrag, wenn Du das nicht möchtest!

Selbst, wenn Du gefragt wirst (z.B. „Warum läuft Ihr Kind nicht/ anders?“) könntest Du sagen: „Sie haben aber gute Augen!“,
„Gut gesehen, ist mir noch gar nicht aufgefallen!“ oder
„Spannend, was Sie so alles sehen.“
Und dann gehst Du einfach weg bzw. in eine andere Richtung.

Alternativ ginge auch: „Für dieses Gespräch stehe ich gerade nicht zur Verfügung.“
Eine so direkte Abgrenzung ist zwar gerade am Anfang nicht einfach, schließlich will man ja als freundlich und offen wahrgenommen werden. Aber manchmal muss das einfach sein und sei es nur, um Kraft und Energie zu sparen!

Alternativ könntest Du Dir auch ein paar kurze Sätze überlegen, die Du bei Bedarf immer sagen kannst und die nicht viel mit Dir machen!

Das Thema Handicap/Behinderung/Einschränkung ist meist negativ besetzt. Es geht einem nicht so leicht über die Lippen bzw. es macht etwas mit einem, wenn man davon erzählt.

Umso hilfreicher kann es sein, wenn Du Dir Erklärungssätze parat legst, die für Dich relativ neutral sind. Ich sage z.B.:
„Weißt Du, ich habe einfach eine besondere körperliche Situation, eine Hemiparese, und kann deshalb meinen rechten Arm und mein rechtes Bein nicht so gut und gezielt bewegen. Und dennoch schaffe ich es inzwischen damit zu klettern, ganz normal Auto zu fahren, zu rennen und vieles mehr.“

Diese Sätze sind für mich neutral, sie machen nichts mit mir. Besonders die Worte „körperliche Situation“ gefallen mir, deutlich besser als die Begriffe „Behinderung“ oder „Einschränkung“. Zwar kann auch niemand anderes direkt etwas damit anfangen, aber ich erkläre es dann ja kurz.

Und: Ich ende immer mit etwas Positivem wie, dass ich jetzt schon das… und das… schaffe. Denn in dem Moment lenke ich nicht nur meinen Kopf auf das, was ich kann, sondern ich lenke auch den Kopf des/der anderen. Weg von dem, dass ich vermeintlich eingeschränkt bin hin zu dem, was auch mit Hemiparese möglich ist.

Der/die andere denkt dadurch automatisch und sehr wahrscheinlich ebenfalls wieder in eine positivere Richtung.
In der Regel sprechen mein/e GesprächspartnerIn und ich nach dieser Erklärung dann entweder weiter über das, was schon geht oder wir wechseln das Thema. Denn Positives ist für Menschen nie so spannend wie Negatives. Das liegt einfach daran, dass wir Negativ-WahrnehmerInnen sind und unser Gehirn für uns 3x mehr auf Negatives achtet als auf Positives oder Neutrales.

Auch eine Möglichkeit: Konfrontieren!

Z.B. indem Du sagst: „Ich merke, Sie gucken jetzt schon eine ganze Weile mein Kind und mich an. Was ist los? Was interessiert Sie?“
Alternativ: „Ich merke, Sie gucken jetzt schon eine ganze Weile mein Kind und mich an. Das stresst mich gerade sehr. Konzentrieren wir uns doch auf etwas anderes!“

Manche Menschen kriegen nämlich gar nicht mit, wie auffällig, manchmal auch aufdringlich ihre Blicke sind. Und entweder Du erklärst anschließend mit Deinen neutralen Sätzen die Situation Deines Kindes oder Du versuchst Dich bewusst wieder auf anderes zu konzentrieren.

Diesen Satz mag ich persönlich gar nicht:

„Das tut mir aber leid für Sie!“ – kurz nachdem ich meine Hemiparese erklärt habe. Denn irgendwie finde ich es ganz schön übergriffig, wenn mir jemand unterstellt, ich würde wegen meines Handicaps leiden. Das tue ich nicht, im Gegenteil!

Gleichzeitig ist in unserer Gesellschaft die Vorstellung noch weit verbreitet, dass Menschen mit Handicap unglücklicher sind als Menschen ohne. Dem ist übrigens auch statistisch nicht so, aber das nur nebenbei.

Wenn mir jemand sagt, „Es tut mir leid für Sie.“, sage ich daher heute häufiger entweder:

  • „Ich würde das Mitleid gerne bei Ihnen lassen. Denn ich bin mit meiner Situation sehr glücklich. Vielen Dank!“,
  • „Spannend, dass Sie zu dem Schluss kommen, dass ich leiden könnte. Das tue ich nicht (aber vielen Dank).“ Gerade dieser Satz regt manche ohne Handicap zum Nachdenken an.
  • Oder ich sage: „Spannend, wie/was Sie denken.“ Der Satz geht notfalls immer.

Denn damit reagiere ich ohne wirklich zu reagieren und gebe den Spielball gleich wieder an den/die andere(n) ab. Diese(r) wechselt dann meist ziemlich schnell das Thema.

Ganz unabhängig davon, wie Du reagierst:

Wichtig ist, dass Du Dich damit zumindest halbwegs gut fühlst!

Dass es nicht so viel mit Dir macht. Denn sonst wird jeder Spielplatzbesuch irgendwann zum potentiellen Horrortrip.

Und wie gesagt, Du musst nicht immer exakt gleich reagieren. Je nach Tag passt etwas anderes zu Dir und Euch. Manchmal freust Du Dich vielleicht sogar, andere aufzuklären, ihnen zu helfen, das Thema Handicap besser zu verstehen. An anderen Tagen würdest Du lieber darauf verzichten, die Blicke ignorieren oder zeigen, dass sie Dich stören. Alles drei ist möglich.

Und es lohnt sich, mal zu überlegen, wie Du reagieren möchtest und Dir dafür ein paar Sätze zurechtzulegen. Dadurch bist Du weniger überrascht, wenn Du mal wieder spezielle Blicke oder auch Fragen bekommst.

Ganz viel Erfolg Dir dabei und schreibe mir gerne mal, wie Du bisher mit den Blicken von anderen umgegangen bist? Ich freue mich drauf!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert