Warum Wahrnehmung so wichtig ist
„Der Stift berührt den kleinen Finger meiner rechten Hand.“, sagte ich mit felsenfester Überzeugung. Meine Augen waren geschlossen und ich hatte die Aufgabe, zu erraten, wo sich gerade der Bleistift befindet.
„Das war leider falsch, Janina. Der Stift ist auf Deinem Ringfinger.“, erwiderte meine Ergotherapeutin.
Ich öffnete verdutzt die Augen: Ups… Tatsächlich, der Stift berührt meinen Ringfinger anstatt meinen kleinen Finger. Misst!
Wahrnehmungstäuschungen wie diese kenne ich sehr gut.
Früher traten diese immer wieder auf, weil ich meinen Ring- und kleinen Finger an der rechten Hand nur sehr verschwommen wahrnahm. Ich wusste zwar, dass sie existieren, aber der Bezug zu ihnen fehlte.
Heute nehme ich sie deutlich besser wahr, ich habe dank viel Training ein Gefühl in ihnen bekommen. Trotzdem lasse ich mich auch jetzt noch ab und an täuschen.
Doch wozu eigentlich Wahrnehmung?
Früher dachte ich immer, ich müsse „nur“ meine Motorik schulen, um meine Hemiparese zu verbessern. Doch seit meiner Ergotherapie weiß ich: Wahrnehmung ist eine unabdingbare Voraussetzung für gezielte Bewegungen. Warum? Ich erkläre es Dir:
Wahrnehmung ist die Fähigkeit, Informationen über die Sinnesorgane (Augen, Ohren, Mund, Nase, Tastsinn) aufzunehmen, zu verarbeiten und zu interpretieren. Man unterscheidet hierbei zwischen der äußeren und der inneren Wahrnehmung. Die äußere Wahrnehmung umfasst die Informationsaufnahme und –verarbeitung von Umweltreizen (z.B. Gegenstände oder andere Menschen, die man sieht, Gerüche, Geräusche etc.)., die innere Wahrnehmung umfasst dagegen verschiedenste Körperempfindungen (z.B. Schmerz, Kälte oder Gefühle).
Erst, wenn es uns gelingt, Sinnesreize zu verarbeiten und sinngemäß zu interpretieren, ist es uns möglich, angemessen auf unsere Umwelt zu reagieren.
Ein Beispiel:
Ich habe Durst. Vor mir steht ein Glas Wasser, aus dem ich gerne trinken will. Um es zu greifen und an meinen Mund zu führen, muss ich jetzt genau wissen,
- wo auf dem Tisch das Glas steht, damit ich es beim Greifen nicht verfehle,
- wie viel Kraft ich ungefähr benötige, um es anzuheben und
- wo sich mein Mund befindet, um das Wasser überhaupt aufnehmen zu können.
Alle diese Informationen liefert uns unsere Wahrnehmung.
Das klingt so einfach und völlig logisch oder? Aber es gibt viele Menschen, die genau damit so ihre Schwierigkeiten haben. Deren Sensomotorik, also die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Motorik, ist beeinträchtigt.
Eine solche visuelle Wahrnehmungstäuschung liegt bei mir nicht vor. Die Lage und Position von Gegenständen im Raum kann ich gut erkennen.
Meine Besonderheit: Die Tiefenwahrnehmung
Die Tiefenwahrnehmung oder auch die kinästhetische Wahrnehmung umfasst Lage- und Bewegungsempfindungen, die nicht visuell (über die Augen) vermittelt werden. Ein Bereich der Tiefenwahrnehmung ist der Stellungssinn. Der Stellungssinn macht es möglich, ohne visuelle Kontrolle (z.B. im Dunkeln oder mit verbundenen Augen) die Lage und Stellung einzelner Glieder und Gelenke zueinander zu erkennen. Und genau das ist ab und an noch eine ganz schöne Herausforderung für mich.
Wenn ich meine Augen schließe und meine Ergotherapeutin meinen rechten Arm in eine andere Position bringt, ist es für mich herausfordernd, genau zu wissen, wo und in welcher Stellung er sich gerade befindet. Obwohl mein Arm derzeit möglicherweise gerade ausgestreckt ist, nehme ich ihn als gebeugt wahr.
Aus diesem Grund ist es für mich so wichtig, Übungen wie diese immer wieder mit meiner Ergotherapeutin zu machen. Denn erst, wenn ich meinen Arm und meine Hand komplett wahrnehmen kann (auch ohne visuelle Kontrolle), kann ich ihn wirklich ganz gezielt bewegen.
Eine weitere Besonderheit: Die Oberflächensensibilität
Die Oberflächensensibilität oder auch die taktile Wahrnehmung beinhaltet die Wahrnehmung über den Tastsinn. Es ist die Fähigkeit des Menschen zu spüren, wenn er von einer anderen Person oder auch einem Gegenstand berührt wird. Diese ist nicht zu verwechseln mit der haptischen Wahrnehmung, also die Fähigkeit, verschiedenste Gegenstände und Materialien aktiv zu betasten. Diese ist bei mir nur minimal beeinträchtigt.
Ein passendes Beispiel, um die eigene Oberflächensensibilität zu testen, ist die Übung ganz zu Anfang dieses Blogeintrags. In diesem Fall nimmt meine Ergotherapeutin einen Stift und berührt mich damit an verschiedenen Stellen meiner rechten Hand. Ich muss daraufhin sagen, wo der Stift mich gerade berührt. Ganz wichtig: Der visuelle Sinn muss auch hierbei wieder ausgeschaltet werden.
Früher hatte ich, wie gesagt, große Schwierigkeiten, Berührungen an meinem kleinen und Ringfinger zu identifizieren. Dies führte dazu, dass ich beide Finger nur minimal und unwillkürlich bewegen konnte. Heute haben sich sowohl meine Wahrnehmungsfähigkeiten als auch meine Beweglichkeit verbessert. Derzeit arbeite ich sogar daran, dass ich sie beide einzeln bewegen kann. Ich bin sehr gespannt darauf, wann ich das schaffe.
Wir können festhalten: Wahrnehmung und Bewegung gehören zusammen!
Sie sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Deshalb ist es so zentral, dass ich eben nicht nur an meiner Motorik, sondern auch an meinen Wahrnehmungsfähigkeiten arbeite.
Und jetzt?
Jetzt bist Du dran!
Wenn auch Du Hemiparese hast und Du Deine Tiefensensibilität oder auch Deine Oberflächensensibilität verbessern willst, kann ich Dir die zwei Übungen, die ich in diesem Blogeintrag beschrieben habe, sehr empfehlen. Zwar benötigst Du eigentlich eine zweite Person für dieses Training. Dennoch können sie auch dann effektiv sein, wenn Du sie alleine ausführst. Probiere es einfach mal aus!
Schnappt Dir einen Bleistift oder auch einen anderen Gegenstand, schließe Deine Augen und berühre damit verschiedene Punkte auf Deiner Hand. Zwar weißt Du ungefähr, wenn Du die Übung alleine machst, wo Du den Stift mit Deiner gesunden Hand hinhältst. Trotzdem handelt es sich hierbei um einen ungewöhnlichen Reiz für Deine betroffene Hand.
Wie fühlt sich der Gegenstand auf Deiner Haut an?
Ist er eher hart oder weich?
Ist er spitz oder stumpf?
Wie breit ist er ungefähr?
Welche Temperatur hat er?
Wenn Du Dir Gedanken über diese Fragen machst, kannst Du Deine Wahrnehmung gezielt schulen.
Das Gleiche gilt für die Übung, in der Du mit verschlossenen Augen die Position Deines Arms veränderst. Versuche aktiv nachzuempfinden, in welcher Stellung sich Dein Arm befindet.
Ist er gebeugt oder gestreckt?
Zeigt er nach vorne oder zur Seite?
Was macht Deine Hand? Zeigt sie geradeaus, nach oben oder nach unten?
Ich wünsche Dir viel Spaß beim Testen der Übungen.
Hattest Du schon ein Wahrnehmungstraining?
Welche Erfahrungen hast Du damit gemacht? Was fällt Dir leicht und was ist herausfordernd für Dich?
Ich freue mich auf Deinen Kommentar zum Thema.
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